Auf Sicht. Vom Umgang mit der Ungewissheit

Verlässlich, vorhersagbar, sicher – genau das scheint die Welt schon seit geraumer Zeit nicht mehr zu sein. Was also tun, wenn das Außen zu wenig Halt und Orientierung bietet? In diesem Beitrag erfahren Sie, warum Ungewissheit zum Leben gehört und wie Sie auch unter Unsicherheit handlungsfähig bleiben.

 

Info & Input

Zwei Seiten einer Medaille

Unsicherheit und Ungewissheit sind eng miteinander verbunden und werden oft synonym verwendet. Beide Begriffe beziehen sich auf eine Situation, in der man nicht sicher ist, was als nächstes passieren wird oder was man tun sollte. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen den beiden Begriffen.

  • Unsicherheit bezieht sich auf eine Situation, in der wir im Zweifel sind, ob wir eine bestimmte Entscheidung treffen oder eine Handlung ausführen sollen. Oder eben besser nicht.
  • Ungewissheit hingegen bezieht sich auf eine Situation, in der wir nicht sicher sind, was als nächstes passieren wird. Wenn wir nicht wissen, wie eine bestimmte Situation ausgeht oder was die Zukunft bringt.

Schwer auszuhalten

Unsicherheit und Ungewissheit können verschiedene Folgen haben, sowohl auf emotionaler als auch auf praktischer Ebene. Sie sind schwer auszuhalten, weil

  • … sie als Gefühle nicht selbst gewählt sind und oft nicht selbst beeinflussbar (scheinen).
  • … unser Gehirn nach bekannten, Orientierung stiftenden Mustern sucht und keine oder zu wenige findet.
  • … weil wir generell ein Bedürfnis nach Abschluss von Handlungen und Ereignissen bzw. nach klaren Antworten auf unsere Fragen haben.

Der Fachausdruck hierfür heißt Need for Cognitive Closure (NFCC)1. Die meisten Menschen möchten in unfertigen Situationen belastende Unsicherheit und Zweideutigkeit vermeiden. Sie bevorzugen vielmehr schnelle Ergebnisse – vor allem, wenn es sie selbst betrifft. In diesem Kontext erscheint eine vorschnelle (und im Zweifelsfalle) Antwort oft besser als gar keine.


Vielfältige Folgen

Unsicherheit und Ungewissheit können verschiedene Auswirkungen haben, je nachdem, in welchem Zusammenhang sie auftreten.

  • Belastende Gefühle: Die subjektiv empfundene bzw. reale Bedrohung der Unsicherheit ist Hochstress fürs Gehirn. Sie löst Gefühle wie Angst, Ärger/Wut, Ohnmacht bzw. Hilflosigkeit aus. Diese werden begleitet von belastenden und negativ gefärbten Gedanken (Katastrophendenken), die nicht selten in endlose Gedankenschleifen münden. Wir glauben diesen Gedanken, identifizieren uns damit und reagieren darauf, als wären sie Fakten. Das Fachwort hierfür heißt Gedankenfusion.
  • Entscheidungsschwierigkeiten: Wenn wir unsicher sind, welche Entscheidung die richtige ist, passiert oft gar nichts mehr. Die Folge ist blockierender Stillstand.
  • Vermeidung von Risiken: Wenn wir uns unsicher sind, können wir auch dazu neigen, Risiken zu vermeiden, um uns vor potenziellen negativen Folgen zu schützen. Dies kann jedoch dazu führen, dass wir Chancen verpassen, die uns weiterbringen könnten.
  • Auswirkungen auf die Gesundheit: Halten Unsicherheit und Ungewissheit über einen längeren Zeitraum an, können sie auch körperliche Auswirkungen haben. Dazu zählen beispielsweise Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme bis hin zu depressiven Verstimmungen.

Die Bewertung macht den Unterschied

Unsicherheit und Ungewissheit sind nicht per se belastend. Ganz im Gegenteil. Die sog. „Sensation Seekers“ gehen absichtlich Risiken ein, die mit Unsicherheit und Ungewissheit einhergehen. Beim Bungeejumping zum Beispiel, bei Antritt eines anspruchsvollen neuen Jobs oder wichtigen Entscheidungen im Leben, deren Wirkung (noch) nicht abzusehen ist.

Wahrscheinlich haben auch diese Menschen Angst. Handlungsleitend oder -verhindernd jedoch ist diese nicht, denn insgesamt überwiegt der „kribbelige Schauer“.

Warum ist das so? Weil sich die Aufmerksamkeit auf das Erleben der Situation und die Empfindungen danach richtet. So wird die Angst nicht zur Bremse, sondern zur Richtungsweiserin. Die positive Folge: Gefühle wie Stolz, Freude oder Erleichterung und entwicklungsförderliche Gedanken („Ich habe das geschafft“!).


Die große Chance

Unsicherheit ist eine Grundbedingung menschlichen Lebens. Sie ermöglicht Reichtum, Vielfalt und Unterschiedlichkeit ebenso wie Freude am spontanen Handeln und kreatives Gestalten. So gesehen, birgt Unsicherheit eine große Chance zur Entwicklung und zum persönlichen Wachstum. Freiheit – das steht fest – gibt es nicht ohne Unsicherheit.

Die Fähigkeit, unter Unsicherheit Zukunft zu gestalten, ist deshalb die Kompetenz unserer Zeit.

Wie also lässt sich diese Kompetenz entwickeln und stärken?

Auf der emotionalen Ebene geht es im Kern darum, Unsicherheit als Gefühl wahrnehmen zu können, es im Körper halten und da sein lassen zu können, ohne darin zu versinken.

Schenken Sie Ihrer Unsicherheit Beachtung, aber keine Bedeutung. Das Gefühl „wegmachen“ zu wollen, funktioniert allenfalls kurzfristig. Es kommt zurück, mitunter sogar stärker. Und das ist auch gut so, denn wie jedes Gefühl hat auch die Unsicherheit eine wichtige Signalfunktion: Sie macht auf ein gerade nicht erfülltes Bedürfnis aufmerksam. Im Falle der Unsicherheit liegt dieses auf der Hand – es fehlt die Sicherheit.

Wenn die Situation also unsicher ist, ist es völlig angemessen, sich unsicher zu fühlen. Die Frage ist nur: Was mache ich mit dem Gefühl?

Gebe ich der mitschwingenden Angst nach und den sorgenvollen Gedanken und blockiere ich mich dadurch höchstwahrscheinlich? Oder packe ich die Unsicherheit in meinen persönlichen Rucksack und mache mich mit ihr auf den Weg?

Stehe ich oder gehe ich? Sie entscheiden.


Praxisteil

Das Leben ist grundsätzlich ungewiss. Deshalb geht es nicht darum, Unsicherheit um jeden Preis zu vermeiden.

So gilt in jedem Fall: Üben Sie sich im bewussten Umgang mit der Unsicherheit des Lebens. Die dabei erworbenen Kompetenzen machen Sie sicherer und tragen ggf. dazu bei, dass Sie zukünftig Unsicherheit anders – also weniger negativ oder bedrohlich – bewerten.

  1. Raus aus der Ohnmacht
  2. Der Körper als Anker
  3. Dankbarkeit leben

Anregung 1: Raus aus der Ohnmacht

Bestimmte Dinge kann ich durchaus beeinflussen, jedoch nur im Hier und Jetzt. Ungewissheit zu akzeptieren heißt, sich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren und die Aufmerksamkeit auf die Dinge zu lenken, die ich aktiv beeinflussen kann.

Sie fragen sich vielleicht: „Was soll denn das bringen, wenn um mich herum alles unsicher ist?“ Eine ganze Menge! Schließlich gibt auch partielle Kontrolle das Gefühl von Sicherheit, Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit. Und viele kleine Erfahrungen wiegen am Ende gemeinsam auch schwer.

Denn: „Energy flows where attention goes.“ (Die Energie folgt der Aufmerksamkeit.)


Anregung 2: Der Körper als Anker

Die körperliche Komponente von Emotionen ist u.U. unangenehm oder schmerzhaft. Sie ist erfahrungsgemäß aber nicht so bedrohlich und beständig wie die Gedanken. Sich auf die Körperempfindungen zu konzentrieren, hilft auch beim Akzeptieren und Abschwächen von Unsicherheit.

So geht‘s:

  • Wo spüren Sie die Unsicherheit im Körper? Konzentrieren Sie sich auf die aktuelle Köperempfindung und nehmen Sie wahr, wie sie sich verändert. Normalerweise geht das viel schneller als erwartet. Wenn wir Gefühle da sein lassen, schwächen Sie sich bereits nach ca. 40 Sekunden ab.
  • Richten Sie dann Ihre Aufmerksamkeit auf eine „neutrale“ oder sichere bzw. stärkende Stelle im Körper (z.B. Auflagefläche der Füße, Muskeln neben der Wirbelsäule, …) und bleiben Sie ein wenig bei dieser Stelle.
  • Finden Sie danach einen deutlichen Abschluss der Übung, z.B. durch festes Abklopfen oder Aufstampfen mit den Füßen.

Anregung 3: Dankbarkeit leben

In dem Moment, in dem Sie sich auf das fokussieren, wofür Sie dankbar sind, realisieren Sie, wie viel Sie bereits in Ihrem Leben haben. Die Monster in Ihrer Zukunft werden kleiner und kleiner, bis sie auf eine unbedeutende Größe zusammenschrumpfen. So verhindern Sie, dass Ihre Zukunftsängste Ihr gegenwärtiges Leben bestimmen.

Fragen Sie sich also in Momenten, in denen Sie die Unsicherheitswelle zu überrollen droht:

Wofür bin ich in meinem Leben dankbar?

Nutzen Sie dafür die Finger Ihrer Hand.

  • Daumen: Auf welche Stärken und Talente bin ich stolz?
  • Zeigefinger: Was in der Natur inspiriert und begeistert mich?
  • Mittelfinger: Wem kann ich heute etwas Gutes tun?
  • Ringfinger: Welche Menschen liebe ich von Herzen?
  • Kleiner Finger: Für was bin ich in meinem Leben wirklich dankbar?


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Quellen:

[1] Stangl, W. (2022, 23. November). Need for closure – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/21727/need-for-closure

Beitragsbild: Pixels – markus-spiske

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