Sonderthema: Umgang mit Ärger, Angst und Hilflosigkeit

Es ist Krieg in Europa. Die Menschen in der Ukraine kämpfen für ihre Freiheit, sie bangen um ihr Leben, viele verlassen ihre Heimat. Wir verfolgen die Nachrichten – ungläubig, ohnmächtig, gelähmt.   

Das ist eine Katastrophe. Sie trifft uns in einem Moment, in dem wir uns – ausgelaugt durch zwei Jahre Pandemie – nach Normalität sehnen. Mit einem Mal ist diese weiter weg als je zuvor. Die Gefühle von Angst und Ausgeliefertsein reißen nicht ab. Sie finden ein neues Epizentrum, um das sie sich drehen.  

Was können wir tun angesichts dieses Krieges? Zusammenhalten, uns gegenseitig unterstützen und unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf das ausrichten, was jetzt einen Unterschied machen kann.  

Mit den folgenden Informationen und Tipps möchten wir Ihnen dabei helfen.  

stg impuls Umgang mit Angst

Klarheit schwindet

Wie geht es Ihnen? Viele Gedanken gehen einem durch den Kopf: Was passiert jetzt? Darf ich weitermachen wie bisher? Was kann ich schon tun? Vermutlich geht Ihr Körper dabei in Stressresonanz. Auf eine Bedrohung reagiert das autonome Nervensystem mit einer Aktivierung des Überlebensmodus. Überleben bedeutet kämpfen, fliehen oder erstarren – gepaart mit einer Einschränkung des klaren Denkens. Die entwicklungsgeschichtlich ältesten Teile des Gehirns schalten auf Autopilot. Das sogenannte „Reptiliengehirn“ übernimmt das Steuer.  

Wir sind nicht mehr Herrin und Herr im eigenen (emotionalen) Haus. Unsere Gefühle wirken fremdbestimmt. Das macht die Situation noch schwerer.


Falls Sie sich im beruflichen Umfeld belastet fühlen, oder privat vor Herausforderungen stehen, die sich auch auf Ihren Beruf auswirken, können Sie über Ihren Arbeitgeber Unterstützung von externen Experten erhalten. Die läuft über ein so genanntes EAP – die externe Mitarbeiterberatung. Sprechen Sie Ihre Personalabteilung oder Ihren Betriebsrat darauf an. Hier gibt es mehr Informationen dazu: EAP erklärt


Wie können wir mit belastenden Gefühlen umgehen?

Hilflosigkeit ist der Boden, auf dem Angststörungen und Depression entstehen. Deshalb ist es gerade jetzt wichtig, dass wir uns als handlungsfähig erleben. Nützlich dafür sind:  

  • das Wissen um Entstehung, Wesen und Funktion von Emotionen 
  • das Verständnis der eigenen Emotionalität  
  • Fähigkeiten zur konstruktiven Emotionsregulation, hier vor allem das Lenken der Aufmerksamkeit  

Wenn uns klar ist, wie wir emotional „ticken“ und wir auch in schwierigen Situationen auf wirksame Strategien zurückgreifen können, können wir immer selbst etwas tun, das einen Unterschied macht.  


Gefühle – das Wichtigste in Kürze

Das emotionale Netz 

Gefühle sind psychische Zustände, mit denen wir auf Reize von außen oder innen reagieren. Als angeborenes Signalsystem dienen sie unserer Orientierung in der Welt. Gefühle zeigen sich auf verschiedenen Ebenen. Diese ergeben das sogenannte emotionale Netz. 

  • Wahrnehmung: Wir filtern und deuten unsere Wahrnehmung „im Licht“ des Gefühls. Bei Angst zum Beispiel kann schon der geringe Abstand eines Passanten bedrohlich wirken. 
  • Gedanken: Wir denken in Übereinstimmung mit unserem Gefühl und erinnern uns dabei an ähnliche Erfahrungen aus der Vergangenheit. Je stärker das Gefühl, desto stärker die Erinnerung, desto eingeengter das Denken – bis hin zum „Tunnelblick“. 
  • Körperreaktion: Der Körper reagiert auf das Gefühl. Bei Angst etwa mit schnellerem Herzschlag und Atem, Schwitzen, Enge in der Brust etc. 
  • Handlungsimpuls: Gefühle wollen immer, dass wir etwas tun. Bei Angst etwa die Situation verlassen, verändern oder Unterstützung suchen. Wir planen oder zeigen also Reaktionen, die dem Gefühl entsprechen. 

Übrigens: Gefühle sind schnelllebig. Sie wechseln alle 40 Sekunden. Nur die Trauer bleibt länger. 

Emotionales Netz

Unsere Tankanzeige

Gefühle sind für Menschen überlebenswichtig. Wie die Tankanzeige im Auto haben sie eine Signalfunktion. Anhand der Gefühle erkennen wir also, ob uns etwas fehlt oder wir etwas Erfüllendes wiederholen können. In dieser Logik gibt es deshalb auch keine vermeintlich guten oder schlechten Gefühle – alle sind da, und alle haben ihren Sinn. 

Die sogenannten positiven Gefühle wie Freude, Stolz oder Geborgenheit weisen uns darauf hin, dass unser emotionaler Tank gut gefüllt ist. Sie zeigen uns, was uns guttut. 

Die sogenannten negativen Gefühle wie Ärger, Angst oder Hilflosigkeit machen uns deutlich, dass gerade etwas Wichtiges fehlt. Sie helfen uns dabei, unerfüllte Bedürfnisse zu erkennen. 

Angst 

Angst ist eine überlebenswichtige Emotion. Angst entsteht, wenn wir selbst oder nahestehende Personen bedroht werden. Sie wirkt stark auf allen Ebenen des emotionalen Netzes. Zunächst reagiert unser Körper, zum Beispiel mit Herzrasen, flacher und schneller Atmung, verkrampften Muskeln oder Schwitzen. Die Wahrnehmung richtet sich auf die Bedrohung als Quelle der Angst. Alles andere tritt in den Hintergrund. Nicht zuletzt bestimmt die Angst auch unser Verhalten. Die bereitgestellte Energie mündet in Angriff, Flucht oder Starre.  

Angst lässt sich schwer aushalten. Aber sie beschützt und hilft uns, Gefahren zu erkennen.  

Angst lenkt unsere Aufmerksamkeit. Wir können lernen, uns von ihrer Energie tragen zu lassen wie von einer Welle (siehe Übung 2).

Ärger

Ärger entsteht, wenn jemand nahestehendes oder wichtige Ziele bedroht werden. Ärger ist eine evolutionär äußerst wichtige Emotion. Er ist notwendig, um die psychische und physische Bereitschaft zur Verteidigung zu aktivieren und um die eigenen Ziele durchzusetzen. Wenn wir uns so richtig ärgern, schlägt der Puls bis zum Hals, die Muskeln spannen sich an, vor allem im Kiefergelenk. 

Eng verbunden mit dem Ärger ist die Empörung. Diese entsteht, wenn für uns wichtige Werte nicht geachtet werden oder wir ein Verhalten als ungerechtfertigt erachten. Damit ist auch die Empörung ein Signalgefühl, das auf Grenzverletzungen hinweist.

Hilflosigkeit

Der Zustand Hilflosigkeit ist nicht einfach zu beschreiben. Er fühlt sich an wie eine Mischung aus Verzweiflung, Hilflosigkeit und Wut. Wir sind total angespannt und zugleich wie gelähmt. Oft kommt noch ein Gefühl des Verlassenseins hinzu. 

Hilflos fühlen wir uns, wenn sich starke Gefühle nicht in Handlungen umsetzen oder anderweitig auflösen lassen. Dabei wird das jeweilige Gefühl zunächst immer stärker und drängender, bis es schließlich in Hilflosigkeit umschlägt. 

Danach kippt Hilflosigkeit oft – in verzweifelte Wut oder depressive Resignation. Das ist schwer auszuhalten. Wir tun deshalb alles dafür, um diesen Zustand so schnell wie möglich zu verlassen.  


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Praxisteil

Unterdrücken zwecklos

Angst, Wut und vor allem Hilflosigkeit sind oft schwer auszuhalten. Weil niemand sich gerne dauerhaft schlecht fühlt, reagieren wir oft radikal und wollen die Gefühle „wegmachen“. Wir unterdrücken sie. 

Klingt plausibel im ersten Moment. Funktioniert aber auf Dauer nicht. Die Gefühle kommen umso stärker zurück. Warum? Weil unsere Gefühle zu uns gehören, sie sind ein Teil von uns.  

Deshalb gilt: Schenken Sie Ihren Gefühlen Beachtung, aber keine Bedeutung. Nehmen Sie sie wahr, ohne darin zu versinken. 

  • Radikale Akzeptanz 
  • Gefühlssurfen 
  • Verlängertes Ausatmen 
  • Die Aufmerksamkeit lenken 

Radikale Akzeptanz

Der Ausdruck „Radikale Akzeptanz“ beschreibt eine bestimmte Haltung gegenüber Situationen, die nicht zu ändern sind. Es geht konkret darum, die Situation und unsere Reaktion (Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse) so anzunehmen, wie sie sind. Man nennt das „emotionales Reagieren, ohne zu handeln“ („Reacting without reaction“). Die Idee ist, sich nicht selbst für seine Gefühle zu verurteilen.  

  • „Ich habe Angst und fühle mich gelähmt, wenn ich die Bilder aus der Ukraine sehe.“
    Ja, das darf sein. 
  • „Ich bin verzweifelt beim Gedanken an die Menschen, die ihre Heimat verlieren.“
    Ja, das darf sein.

Schon das bloße Wahrnehmen eines Gefühls, wie es ist (ohne es zu bewerten), schafft Abstand und sorgt für Entlastung. 


Gefühlssurfen

Gefühle kommen – und sie gehen wieder. Erstaunlich schnell, meist alle 40 Sekunden. Die Voraussetzung dafür allerdings ist, dass wir die Gefühle kommen und gehen lassen. Wie Wellen. Üben Sie sich im Gefühlssurfen. 

stg Übung Emotionssurfen


Verlängertes Ausatmen

Das gezielte Verlängern des Ausatmens aktiviert den parasympathischen Teil unseres Nervensystems und hilft Ihnen, sich in emotional aufwühlenden Situationen wieder zu beruhigen.  

Natürlich können Sie diese Übung auch zwischendurch machen, um sich zu zentrieren. Wie immer gilt: Je gewohnter das Tun, desto wirksamer ist es im Notfall.  

So geht’s:

  • Stellen oder setzen Sie sich aufrecht hin und heben Sie die linke oder rechte Hand auf Höhe Ihres Mundes.  
  • Atmen Sie tief ein und halten Sie den Atem einen Moment an. Dann bremsen Sie die Ausatmung mit Ihren Lippen. Atmen Sie so lange aus wie möglich und lassen Sie dabei Ihren Atem langsam an Ihrem Daumen entlanggleiten. Hinauf und herunter – solange, bis Ihre Lunge leer ist. 
  • Dann atmen Sie wieder tief ein und wiederholen das Ganze mit Ihrem Zeigefinger. 
  • Anschließend folgen Mittel-, Ring- und kleiner Finger. Bei Bedarf wiederholen Sie das Ganze an Ihrer anderen Hand.  
  • Wenn Sie alle Finger „beatmet“ haben, spüren Sie kurz nach. Wie fühlt sich Ihr Körper gerade an? 

Alternative: Den Atem verlängern können Sie auch beim Singen – egal, wie es klingt! Und angeblich sind Singen und Angsthaben nicht kompatibel. Beides gleichzeitig geht nicht.  

Die Aufmerksamkeit fokussieren 

Unsere Aufmerksamkeit ist eine mächtige Ressource. Wie eine Türsteherin, beeinflusst sie, was in unser Bewusstsein gelangt. Das ist wichtig. Denn alles Erleben ist eine Folge der Aufmerksamkeitsfokussierung. Die Art und Weise, wie wir eine Situation erleben, hängt entscheidend davon ab, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.  

Das gezielte Fokussieren der Aufmerksamkeit lässt sich trainieren wie ein Muskel. Hier einige Anregungen:  

Stoppen Sie das sogenannte „Doomscrolling“.  

Wer online ohne Unterlass nach Informationen sucht, um sich möglichst lückenlos zu informieren, tut dies oft aus einem Bedürfnis nach Sicherheit heraus.  

Diese Rechnung geht häufig nicht auf. Im Gegenteil: die Flut belastender Nachrichten und Bilder überfordert das Gehirn. Der Körper reagiert mit Stresssymptomen. So kippt die vermeintliche Kontrolle in Unsicherheit und Hilflosigkeit. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Diskrepanz zu unserem Alltag. Im Handy ist Krieg, vor unserem Fenster sind die ersten Frühlingsblumen. Wie passt das zusammen?

Unsere Empfehlung:  

Reduzieren Sie Ihren Medienkonsum bewusst. Fokussieren Sie sich auf einen oder zwei Kanäle und geben Sie sich feste Zeiten vor. Morgens, mittags und abends zum Beispiel. Bleiben Sie konsequent und widerstehen Sie dem Impuls, aufs Handy zu schauen.

Wird der Handlungsdrang sehr stark, kann eine der gerade beschriebenen Übungen helfen.

Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das, was verbindet und stärkt.  

Dazu zählen Routinen und Struktur, Gemeinschaft und Nähe, Bewegung in der Natur, Berührung. Dazu zählt auch der Blick auf das, was wir aktuell tun können: spenden, demonstrieren, Mahnwachen halten und vor allem weitermachen.  


Übrigens

Mehr über diese Themen lesen Sie in unserem stg-Impuls. Das sind Expertentipps aus unserer Beratungspraxis, die wir unseren Kundenunternehmen und deren Mitarbeitenden regelmäßig in gelayouteter Form zur Verfügung stellen.

Möchten Sie mehr darüber erfahren? Dann wenden Sie sich bitte an Martin Reinhardt.


Quellen: https://www.rnd.de/wissen/angst-vor-dem-krieg-in-der-ukraine-psychotherapeutin-gibt-ratschlaege-2KE22APZO5FUXOXCUKXGN7QQZE.html // https://www.tiktok.com/@drjuliesmith?lang=de-DE // Winscheid, L. (2021). Besser fühlen. Eine Reise zu mehr Gelassenheit. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. // Bilder: Ave Calvary Martinez (Pexels), Mathias P. R. Reding (Unsplash).

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