Perfektionismus: Ein Plädoyer für das persönliche Mittelmaß

In diesem Beitrag erfahren Sie, warum Perfektionismus nicht gleich Perfektionismus ist und wie Sie entspannter mit den eigenen hohen Ansprüchen und der Angst vorm Scheitern umgehen können.

Perfektionismus: Ein Plädoyer für das persönliche Mittelmaß

Perfektionismus als Januskopf

Perfektionismus ist ein ausgeprägtes Streben nach Vollkommenheit und Fehlerfreiheit. Als eine Art zu denken (kognitives Schema) kann er alle Lebensbereiche betreffen. Und das ist nicht unbedingt schlecht. Sich ambitionierte Ziele zu setzen, sorgfältig aufs Detail zu achten, Aufgaben nicht nur gut, sondern bestmöglich zu erledigen und sich dabei stetig zu verbessern, kann ein enormer Ansporn und Motor der persönlichen Entwicklung sein. Viele Perfektionist*innen sind überdurchschnittlich erfolgreich – im Beruf, in der Kunst oder im Leistungssport.

Daneben gibt es den dysfunktionalen Perfektionismus. Er speist sich nicht aus dem Erleben eigener Wirksamkeit, sondern aus dem Bemühen, sich unangreifbar zu machen, sowie den Bedürfnissen nach Kontrolle und Anerkennung.

Perfektionismus ist also ein Januskopf. Kippt er, so dass die Angst zu versagen und eine überkritische Selbstbeurteilung die Oberhand gewinnen, verursacht er Stress, Leidensdruck und begünstigt nicht selten auch die Entstehung psychischer Erkrankungen wie Burn-out oder Depression. Perfektion ist auf Dauer nicht leistbar.


Falls Sie sich im beruflichen Umfeld belastet fühlen, oder privat vor Herausforderungen stehen, die sich auch auf Ihren Beruf auswirken, können Sie über Ihren Arbeitgeber Unterstützung von externen Experten erhalten. Die läuft über ein so genanntes EAP – die externe Mitarbeiterberatung. Sprechen Sie Ihre Personalabteilung oder Ihren Betriebsrat darauf an. Hier gibt es mehr Informationen dazu: Was ist EAP


Eine Frage des Antriebs

Was unterscheidet den funktionalen vom dysfunktionalen Perfektionismus? Es sind nicht die ambitionierten Ziele oder hohen Ansprüche, sondern das persönliche Wozu. Funktionale Perfektionist*innen wollen sich verbessern und weiterentwickeln, sie haben Spaß an der Höchstleistung. Ihr Antrieb heißt Entwicklung. Fehler und Misserfolge sind für sie keine Katastrophen, sondern Ansporn, es weiter zu probieren. Der Prozess zählt.

Dysfunktionale Perfektionist*innen hingegen sehen primär das Ergebnis. Weicht dieses ab von ihrer Erwartung ab, denken sie schwarz-weiß. Sie stellen sich und ihren Selbstwert komplett in Frage. Kein Wunder also, dass sie alles tun, um Fehler zu vermeiden. Der Preis dieser Strategie ist allerdings hoch, denn Vermeidung verhindert Entwicklung. So kann sich die Angst zu scheitern zu einer Lebenshaltung auswachsen, die Menschen immer weiter aus dem Leben entfernt.


Freuen über den Erfolg

Wann haben Sie sich zuletzt über einen Erfolg gefreut?

Diese Frage ist der Lackmustest zur Unterscheidung von funktionalem und dysfunktionalem Perfektionismus. Machen Sie für sich den Test:

  • Können Sie aus ganzem Herzen genießen, wenn Sie etwas geschafft oder Ihnen etwas richtig gut gelungen ist? Auch wenn der Weg dorthin holprig war?
  • Oder: Schenken Sie Ihren Erfolgen kaum Aufmerksamkeit? Zweifeln Sie daran, dass das, was Sie tun, Ihren Ansprüchen genügt? Oder haben Sie Angst vorm Scheitern und gehen manche Dinge deshalb erst gar nicht an?

Welche Gefühle sind vorherrschend?

  • Sind Sie stolz oder zufrieden? Vielleicht auch etwas erschöpft von der Anstrengung?
  • Oder: Fühlen Sie sich eher angespannt, unsicher oder gestresst?

Wie sehen Ihre Antworten aus? Sind sie eindeutig oder liegen Sie eher dazwischen? Das kann sein, denn Perfektionismus ist ein Spektrum. Je nach Lebensbereich können Ihre Antworten unterschiedlich ausfallen.


Praxisteil: Weil gut auch gut genug sein kann

Perfektionismus ist nicht per se schlecht. Er wird dann ungesund, wenn die Angst zu versagen, die Lust an der Leistung überwiegt. Dysfunktionaler Perfektionismus ist kein unabänderliches Schicksal. Wenn Sie sich mit (zu) hohen Ansprüchen selbst im Weg stehen und vielleicht darunter leiden, könnten die folgenden Schritte hilfreich sein.

Schritt 1: Wohlwollende Akzeptanz

Kein Muster, keine Eigenschaft oder Gewohnheit entsteht einfach so – sie haben sich auf unserem Lebensweg aus einem guten Grund entwickelt. Es geht nicht um das Warum, sondern das Wozu. In diesem Sinne ist ein belastender Perfektionismus eine alte Anpassungsleistung oder ein erlernter Schutzmechanismus. Früher einmal, in einer bestimmten Situation haben diese Muster unsere Entwicklung – in Extremfällen sogar das Überleben – gesichert. Das gilt es zu würdigen: So freundlich und wohlwollend wie möglich.

Kämpfen Sie nicht gegen Ihren Perfektionismus, reichen Sie ihm die Hand. Er ist ein Lösungsversuch von früher, der im Hier und Jetzt Probleme bereitet, weil er nicht mehr angemessen ist. Er wollte Ihnen helfen und Sie schützen, als Sie klein waren. Mittlerweile sind Sie ihm entwachsen.

Genauigkeit, hohe Ansprüche oder Leistungsorientierung sind im Kern positive, weil entwicklungsfördernde Eigenschaften, die Sie beibehalten können. Es geht lediglich darum, neue und aktuell lebensdienliche Strategien zu entwickeln.


Schritt 2: Annäherung ans Thema Fehler und Scheitern

Dysfunktionaler Perfektionismus speist sich ganz wesentlich aus der Angst vor Misserfolgen und damit verbundenen negativen Konsequenzen. Fehler zu machen oder gar zu scheitern, ist tabu. Es kann hilfreich sein, sich dem Thema behutsam zu nähern und sich Anregungen zu holen, wie „besser scheitern“ aussehen kann.

Zum Beispiel:

  • Die Australierin Celeste Barber hat über neun Millionen Follower auf Instagram. Die sehen ihr beim Scheitern am gängigen Schönheitsideal der sozialen Medien zu.
  • Der Universitätsprofessor Johannes Haushofer hat seinen „Lebenslauf des Scheiterns
  • („CV of Failures“) ins Netz gestellt und damit mehr Aufmerksamkeit erregt als mit seiner wissenschaftlichen Arbeit.
  • Und bei den Fuckup Nights erzählen gescheiterte Gründer*innen, Chefs und Angestellte
  • von ihren größten Pleiten. Auf der Bühne!

Die Quintessenz: Fehler gehören zum Lernen und zur Entwicklung. Sie sind kein Beinbruch oder eine soziale Bankrotterklärung. Ganz im Gegenteil: Menschen, die offen mit Niederlagen umgehen und zu ihren vermeintlichen Makeln stehen, wirken sympathischer und nahbarer als perfekte Zeitgenossen. In ihrer Gegenwart lebt es sich entspannter und echter, weil Fehler (die ja ohnehin passieren) sein dürfen. Das verbindet.


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Schritt 3: Realitätscheck

Wenn dysfunktionaler Perfektionismus eine alte Anpassungsstrategie ist, stammen auch die damit verbundenen Gefühle und Gedanken aus einer anderen Zeit. Sie sind in ihrer Stärke in der aktuellen Situation oftmals unangemessen und hinsichtlich der Folgenabschätzung zu negativ fokussiert.

Konkret heißt das zum Beispiel: Sie bereiten eine Präsentation vor – zehn Minuten im Teammeeting – und sind ängstlich darauf bedacht, dass wirklich jedes Wort sitzt. Gefühlt hängt Ihre Karriere davon ab. Da darf natürlich nichts schiefgehen und falls doch, ist es eine Katastrophe. Ist es das wirklich? Mit dem Wissen, dass perfektionistische Gefühle und Gedanken oft unpassend zum Hier und Jetzt sind, lassen Sie sich leichter relativieren. Nehmen Sie die Gefühle und Gedanken wahr, ohne sofort darauf zu reagieren.

Hinterfragen Sie Ihre Bewertung und die befürchteten Konsequenzen aus der erwachsenen Perspektive heraus.

  • Woher kommen Ihre Maßstäbe?
  • Was kann schlimmstenfalls passieren?
  • Wie wahrscheinlich ist das?
  • Welche Alternative zum Müssen gibt es?

Trainieren Sie zunächst die Wahrnehmung Ihres Denkens und Fühlens. Das ist der erste Schritt zu mehr Flexibilität und Entscheidungsfreiheit. Sie brechen damit das starre kognitive Regelwerk immer mehr auf, das Ihre Selbstwirksamkeit untergräbt.


Schritt 4: Ihr persönliches Mittelmaß

Nachdem Sie Ihre Bewertungsschemata gelockert haben, kommen Sie ins Tun. Dazu braucht es das kalte Wasser, sprich reale Situationen, in denen Sie sich anders – absichtlich „unperfekt“ – verhalten.

Wählen Sie Situationen (vielleicht auch wiederkehrende), in denen Sie merken, dass Ihr Aufwand den Nutzen überwiegt. Diese Anstrengung ist ein verlässlicher Indikator dafür, dass „gut“ genug ist, das Mittelmaß reicht.

Ja, allein das Wort „Mittelmaß“ lässt eingefleischte Perfektionist*innen erschaudern. Zugleich geht es um eine angemessene Balance zwischen Aufwand und Nutzen.

Deshalb: Überwinden Sie sich, halten Sie die „Unperfektion“ mit ihren Gefühlen und Gedanken aus … und schauen Sie, was passiert. Immer wieder.

Es ist relativ wahrscheinlich, dass die befürchteten drastischen Konsequenzen nicht eintreten. Und falls etwas nicht gut gelingt, ist es wichtig, genau hinzusehen und den Fehler präzise zu benennen. So kommen Sie weg vom Schwarz-Weiß-Denken und lernen, die Töne dazwischen wahrzunehmen.

Sie werden nach ein paar Experimenten wahrscheinlich feststellen, dass die begleitenden Gedanken und Gefühle schwächer und weniger belastend sind, Sie nicht mehr im Griff haben. Damit gewinnen Sie mehr persönliche Freiheit.

Und wenn Ihnen etwas wirklich wichtig ist, können Sie gerne perfekt sein. Bewusst. Aus vollem Herzen.


Übrigens

Mehr über diese Themen lesen Sie in unserem stg-Impuls. Das sind Expertentipps aus unserer Beratungspraxis, die wir unseren Kundenunternehmen und deren Mitarbeitenden regelmäßig in gelayouteter Form zur Verfügung stellen.

Möchten Sie mehr darüber erfahren? Dann wenden Sie sich bitte an Martin Reinhardt.


Referenzen

https://www.duden.de/rechtschreibung/perfekt

https://www.duden.de/rechtschreibung/Perfektion

https://www.youtube.com/watch?v=lntQl01P6BM

https://karrierebibel.de/perfektionismus/

https://neuland.uni-landau.de/index.php/2021/11/wenn-zu-viel-perfektion-im-leben-schadet/

https://www.zeit.de/arbeit/2022-05/perfektionismus-beruf-job-bewerbungsgespraech

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